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Kinder nicht in Rollen pressen

Kinder besetzen oft bestimmte Rollen in der Familie. Betonen wir diese Rollen bzw. bestimmte Züge zu häufig, prägt dies das kindliche Selbstbild, auch nach außen - nicht immer vorteilhaft, in jedem Fall aber zu einseitig.


Kinder nicht in Rollen pressen

"Sie ist unser Sonnenschein!", "Er ist der Schlaukopf in der Familie.", "Sie hat an fast jedem Essen was auszusetzen.", "Er ist ein kleiner Angsthase!" - Manchmal reduzieren wir Kinder auf einige wenige Eigenschaften und projizieren sie in bestimmte Rollen. Ist euch noch nicht passiert? Ich habe mich selbst schon öfter dabei ertappt, dass ich meine Kinder vor anderen mit nur wenigen Charakterzügen beschreibe. So erzählte ich früher immer mal wieder gern von "meinem schüchternen Sohn" und "meiner hochsensiblen Tochter". Das klingt zunächst nicht so schlimm, aber passiert dieses Typisieren zu häufig, können die Folgen weitreichender und prägender sein als wir denken. Vor allem, wenn wir vermehrt die scheinbar ungünstigen Eigenschaften hervorheben oder gerade bei Geschwisterkindern das eine positiver, weniger anstrengend darstellen als das andere.

Schubladen-Denken schürt Druck und Geschwisterkonflikte

Das Schubladen-Denken wird zum einen der Vielfalt der kindlichen Persönlichkeit nicht gerecht und zum anderen verpassen wir Kindern einen Stempel, den sie nicht nur zu Hause und im Familienkreis haben, sondern auch oft in der Öffentlichkeit mit sich tragen - in der Schule, im Sportverein oder im Freundeskreis.

Ich kenne dieses Schubladen-Denken selbst gut aus meiner eigenen Kindheit: Meine große Schwester war in den Augen meiner Eltern immer die Vernünftige, Zuverlässige, Brave. Im Vergleich zu ihr war ich chaotisch und wild. Immer wollte ich beweisen, dass ich auch so zuverlässig bin. Aber ich wurde in meinem Elternhaus diesem Anspruch nicht gerecht, lief scheinbar immer etwas hinterher. Selbst heute ist es noch im Kopf meiner Eltern, dass ich tendenziell die Unpünktliche bin. Bin ich nicht, allerdings passiert es mir - wie es der Teufel will - genau bei Verabredungen mit meiner Schwester oder mit meinen Eltern, dass dann tatsächlich irgendwas Unerwartetes passiert und ich 15 Minuten später am Treffpunkt eintreffe. Selbsterfüllende Prophezeiung oder ist der Druck zu groß? 

Vielschichtige Persönlichkeit der Kinder sehen

Zurück zu meinen eigenen Kindern: Mein nun jahrelang angeblich so schüchterner Sohn traute sich tatsächlich lange nicht, allein zum Bäcker zu gehen oder sich bei seinem Fußballtrainer für eine Position stark zu machen. Statt höflich zu grüßen, begegnete er unseren Nachbarn mit gesenktem Kopf. Hatten wir ihm das Schüchternsein so sehr eingeredet, dass er sich einstweilen dahinter versteckte oder nicht genug Selbstvertrauen aufbauen konnte? Zum Glück hat er kein Trauma von meinen wenig durchdachten Teildarstellungen nachbehalten: Heute geht mein Teenager-Sohn allein zum Bäcker, grüßt freundlich jeden Nachbarn und setzt sich selbstbewusst für seine Belange und Rechte daheim und in der Schule ein. Bestimmt hat er noch eine schüchterne Seite, aber er hat eben auch viele andere. Und meine so sensible Tochter, die früher jeden verstehen und trösten wollte und dadurch ständig in Konflikte irgendwie mitverwickelt war, hält sich heute oft klug raus. Sensibel und empathisch ist sie nach wie vor, aber diplomatischer - mehr begleitend als mittendrin, wenn andere sich streiten. Sie ist eben auch sehr facettenreich.

Und genau das ist es, kein Kind ist immer nur der Sonnenschein, kein Kind der ständige Tollpatsch, keines nur der Quengelgeist. Betonen Eltern oder auch Großeltern bei einem Kind immer wieder Negatives und bei dem Geschwisterkind hingegen viel häufiger Positives, fühlt das "negativ belegte" Kind dieses Ungleichgewicht in der Familie und ringt nach (positiver) Aufmerksamkeit. Dieser Schrei nach Aufmerksamkeit setzt sich nicht selten in der Schule fort. Ganz wichtig ist auch, unerwünschtes Verhalten nicht regelmäßig zu betonen, wenn ein Kind in der Familie an ADHS leidet. Hier kann eine Stigmatisierung besonders folgenreich sein. Oder wenn ein Kind angeblich immer wieder der Angsthase ist und ein anderes der mutige und tapfere Held, traut sich das eher ängstliche Kind vielleicht erst recht nichts zu bzw. das andere wird unter Druck gesetzt, sich mehr zuzumuten, als es vielleicht mag (dazu fällt mir ein, wie sehr ich den Spruch "Indianerherz kennt keinen Schmerz" schon als Kind gehasst habe). Aber nicht nur bei Geschwisterkindern kann es heikel sein, sie in Rollen zu pressen. Einzelkinder spüren die Tragweite ihrer "gewählten Besetzung" vielleicht ebenso, z.B. im erweiterten Familienkreis oder bei Freunden und in der Klassengemeinschaft.

Wichtig ist es also, ob bei klein oder groß die vielen Seiten zu sehen. Hier braucht man die Ecken und Kanten nicht auszublenden, diese sind ein wichtiger Teil der Persönlichkeit und können - je nach Perspektive - auch Stärken sein. Jedes Kind ist ein Gesamtkunstwerk!

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